Eine "mittelalterliche" Fragestellung: Koedukation als Verfestigung geschlechtsspezifischer Benachteiligung?

Unterrichtserfahrungen und Beurteilungen von Schüler/innen einer 12. Bankfachklasse


Selbsteinschätzungen von Schüler/innen können selbstverständlich sind falsch sein. Andererseits müssen jedoch Beurteilungen von erwachsenen, bereits im Berufsleben stehenden Auszubildenden durchaus Ernst genommen werden, auch wenn sie anderen Untersuchungsergebnissen oder den Beurteilungen der Lehrerschaft oder der Erwachsenenwelt möglicherweise widersprechen.

Im vorliegenden Fall handelt es sich um die Auswertung einer freiwilligen schriftlichen Befragung von Schülerinnen und Schülern einer 12. Bankfachklasse (BK 12 C) an einer Beruflichen Schule in Nürnberg am Ende des Schuljahres 2000/01. An dieser Schule (Berufsschule 4) läuft seit dem Schuljahr 1999/2000 ein Modellversuch, bei dem alle anlagen- und damit EDV-orientierten Unterrichtsbestandteile in Klassen des Kreditgewerbes weitgehend - soweit Unterrichts- und Lehrereinsatzplanung dies zulassen - getrennt nach Geschlechtern stattfinden. An der Schule konnte somit über zwei Jahre hinweg die allseits artikulierte Forderung nach einer Geschlechtertrennung im EDV-Unterricht in einer schmalen Schülernische realisiert werden.

Alle befragten Schüler/innen haben dadurch in der Regel sowohl koedukativen wie nicht koedukativen EDV-Unterricht selbst erlebt und können ihre damit verbundenen Erfahrungen artikulieren.

Der EDV-Unterricht in der Klasse beinhaltete im Wesentlichen die Anwendung der Tabellenkalkulation (Excel) auf unterrichtliche und betriebliche Problemstellungen (11. Jahrgangsstufe) und die Verwendung des Office-Paketes (Powerpoint, Word, Excel) sowie des Internet (Netscape Navigator und Composer) für einen ganzjährigen Projektauftrag zur Vorbereitung und Durchführung einer Präsentation zum Thema Alterssicherung für Auszubildende nach der Rentenreform von 2001 (12. Jahrgangsstufe).

An der Befragung nahmen die meisten Mädchen, aber nur ein kleiner Teil der männlichen Schüler teil (4 von 16 Jungs und 11 von 13 Mädchen). Das Alter der Mädchen lag bei genau 18 Jahren, das der befragten Jungs bei etwas über 19 Jahren.

8 von 11 Schülerinnen hatten einen EDV-Unterricht mit Geschlechtertrennung über die zwei Jahre Ausbildungszeit hinweg, die Jungs hatten überwiegend EDV-Gruppen mit beiden Geschlechtern (3 von 4).

45 % der Schülerinnen fühlt sich hinsichtlich EDV recht kompetent

5 der Mädchen schätzten sich bezüglich ihrer EDV-Kenntnisse als ganz kompetent ein, 6 Mädchen beurteilten sich selbst als nicht so kompetent (Jungs 4:0).

73% der Schülerinnen gefällt der EDV-Unterricht

8 von 11 Schülerinnen gefiel der EDV-Unterricht, insbesondere aber

Den Jungs gefielen insbesondere Surfen im Internet, Webseitengestaltung, Internetrecherchen, der Erwerb von Wissen für andere Fächer und die Umsetzung des Fachwissens in EDV-Lösungen.

Die Mädchen, denen der EDV-Unterricht nicht gefiel, kritisierten insbesondere das Vorgehen (zu schnell).

Nur 9% der Schülerinnen benutzen privat in nennenswerten Umfang den PC (mehr als fünf Wochenstunden)

2 von 11 Schülerinnen haben auch heute privat noch keinen PC und Internetanschluss, 8 Schülerinnen verwenden den PC außerhalb des Unterrichts maximal fünf Stunden wöchentlich, nur eine von 11 Schülerinnen gibt an, den PC bis zu 10 Stunden in der Woche zu verwenden. Dabei dominieren Internet und Textverarbeitung als Verwendungsformen, daneben wurden auch Spiele, Bildbearbeitung und Musikhören genannt. Als Gründe für die PC-Nutzung stehen praktische Informationsgewinnung und Kreativität an erster Stelle, berufliche Fortbildung, schnelle Texterfassung und Kommunikation (vermutlich Chat und Email).

Bei den Jungs (zu 50% 10 bis 20 Stunden wöchentlich) dominieren Internet und Spiele. Als Gründe werden Spaß, Zeitvertreib und berufliche Nutzung genannt.

100% der Schülerinnen benutzen beruflich den PC

5 Schülerinnen arbeiten 10 bis 20 Stunden, die restlichen 6 Schülerinnen mehr als 20 Wochenstunden am PC, einige während ihrer gesamten Arbeitszeit. Dies wird von den Mädchen auch akzeptiert und als selbstverständlich angesehen (PC unverzichtbar, Arbeitserleichterung u.ä.). Kritik wird höchstens über zu lange Ladezeiten und veraltete Programme geäußert.

Die Anwendungen sind primär von der betrieblichen Situation geprägt (Banksoftware, Word, Internet, Intranet).

Ähnliches gilt für die männlichen Schüler, die allerdings im Betrieb deutlich weniger am PC sitzen (alle Jungs maximal 20 Stunden).

55% der Schülerinnen sind gegen eine Geschlechtertrennung im EDV-Unterricht, 36% sind dafür

Die Mehrheit der Schülerinnen ist somit für Koedukation im EDV-Unterricht. Die Gründe dafür sind allerdings unterschiedlich:

Die Gründe dagegen und damit für eine Geschlechtertrennung sind: Die befragten Jungs sind übrigens zu 50% für und zu 50% gegen Koedukation:

Pro:

Contra: 55% der Schülerinnen glauben, dass Mädchen in EDV schlechter sind

6 Schülerinnen glauben, dass Mädchen im Großen und Ganzen in EDV schlechter als ihre Mitschüler sind.

Gründe:

Die restlichen 5 Schülerinnen glauben dies nicht.

Gründe:

Die Meinung der Schüler ist wiederum in zwei Hälften geteilt: 45% der Schülerinnen glauben nicht an eine strukturelle Benachteiligung und die Notwendigkeit, geschlechtsspezifischer Ausgleichsmaßnahmen, 27% aber schon

3 von 11 Schülerinnen unterstützen die ihnen vorgestellten Thesen der österreichischen Frauengruppen und glauben an eine strukturelle Benachteiligung von Mädchen und an die Notwendigkeit geschlechtsspezifischer Ausgleichs- und Förderungsmaßnahmen:

Eine relative Mehrheit von 5 Schülerinnen stimmt den Thesen allerdings nicht zu: Auch diesbezüglich ist die Meinung der Schüler wiederum in zwei Hälften geteilt: Fazit

Soweit man aus den Äußerungen dieser wenigen (15 Befragungen) und sehr spezifischen (Bankkaufleute, die in der beruflichen Sozial- und Einkommenshierarchie eher am oberen Ende einzuordnen sind) Schülerinnen vorsichtige Schlussfolgerungen ziehen kann, deutet sich wohl Folgendes an:

Damit stellt sich die Frage, ob man der Koedukationsentscheidung die selbstbewusste Mehrheitsmeinung vielen Schülerinnen zu Grunde legt, oder ob nicht auch eine Minderheit von Schülerinneninteressen schutzwürdig genug ist, um eine spezielle Förderung der Schülerinnen im EDV-Unterricht zu bejahen.