Die Entzauberung des Pisa-Wunderlandes Finnland oder: Die Kölner Silvesternacht in der Pädagogik |
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Man kann es nur als pädagogische Sensation bezeichnen: Ein englischer Bildungsforscher enthüllte soeben, dass der finnische Pisa-Erfolg nicht auf die ach so tollen neuen Lernformen zurückzuführen ist - die wurden da nämlich erst kurz vorher eingeführt -, sondern auf den traditionellen, erzkonservativen Paukunterricht in den 30 Jahren zuvor. Darüber berichtet der folgende Beitrag von Walter Plinke in einer Verbandzeitschrift für Wirtschaftsschullehrer. Walter
Plinke Pisa
Europameister Finnland verliert seinen Nimbus als Vorzeige-Bildungsland (Auszug
aus W&E 2016, Ausgabe 2, S. 67 ff.) Bildungsstudien
werden allenthalben unter großer Anteilnahme der Öffentlichkeit publiziert. Ihre Urheber
(Bertelsmann, UNICEF, Pisa, IGLU, TIMM.S etc.) haben als wirkungsmächtige
Trendsetter eine erhebliche bildungspolitische Bedeutung. Mit
ihren empirisch gestützten Schlussfolgerungen und der Trivialisierung ihrer Ergebnisse in
Form von Ranglisten setzen sie Bildungspolitiker und Schuladministratoren regelmäßig
mächtig unter Handlungsdruck. Sie sind nicht selten Anlass für hektische
strukturelle, didaktische und/oder methodische Modernisierungsmaßnahmen im
Schulwesen. Dabei orientiert man sich vornehmlich am vermeintlich Besten in der
Hoffnung, im Bildungsranking einige Punkte gut machen zu können. Nach
der ersten Pisa-Studie im Jahre 2000 war Finnland lange Zeit das Vorzeige-Bildungsland.
Jedenfalls so lange, bis ausgerechnet dieser Vorreiter moderner Pädagogik trotz
ständiger Verbesserungsprozesse im Stile von Kaizen nach und nach deutlich ins
Hintertreffen geriet. Und alle Welt fragte sich, woran das wohl liegen möge. Der
Bildungsforscher GASBRIEL HELLER SAHLGREN von der London School of Economics fand dafür
eine profane und zugleich überraschende Antwort: Die aus der ersten Pisa-Studie gezogenen
Schlussfolgerungen sind in wesentlichen Teilen falsch. Denn nicht die
moderne Unterrichtsgestaltung verschaffte Finnland seinen Spitzenplatz im Bildungsranking,
sondern die konservativen, eher autoritären und lehrerzentrierten
Lehrmethoden. Es
ist immer wieder verstörend zu erleben, wie nah beim Thema Bildung Ideologie,
Mainstream-Doktrin und Selbsttäuschung beisammen liegen und wie unkritisch Ergebnisse von
Bildungsstudien und darauf aufbauende Bewertungen und Klassifizierungen hingenommen
werden. Anstatt die vorliegenden empirischen Daten sorgfältig auszuwerten und die
Bedingungen für ein gutes oder weniger gutes Bildungsrating zu eruieren, werden nicht
selten im Hurra-Stil voreilige Schlussfolgerungen gezogen. Dabei dominiert die mit einer
wir wussten es bereits-"Attitüde vorgetragene Argumentation, nach der sich
beste Lernerfolge nur in autonomen Schulen realisieren lassen, in denen nach modernen,
kreativen Methoden variantenreich unterrichtet wird und in denen es kuschelig und zugleich
egalitär zugeht. Gänzlich verpönt ist der (autoritare) Frontalunterricht; hipp dagegen schülerzentrierte,
fächerübergreifende und in Projektform oder Lernfeldern organisierte
Unterrichtssequenzen mit Pädagogen, die sich all Organisatoren -oder besser noch
- als Moderatoren autonomer, individualisierter, selbstbestimmter und
selbstkontrollierter Lernprozesse Diese
schöne neue Schulwelt fanden die Pisa-Forscher bei ihrer ersten Studie
in Finnland vor und kürten es zum europäischen Bildungsgewinner.
Heerscharen von Bildungsexperten pilgerten daraufhin in das gelobte Bildungsland, um von
den Besten zu lernen. Es machte sich eine Aufbruchsstimmung breit, die auch hiesige
Bildungspolitiker erfasste und sie zur Umsetzung gleichartiger Reformen veranlasste.
Schließlich schienen Finnlands Schulen als der gelungene Gegenentwurf zu den in mehreren
Kompetenzbereichen fahrenden asiatischen Schulen, die ihre überaus guten Lernerfolge vor
allem aufgrund einer autoritären und disziplinbetonten Drill- und Druck-Schulkultur
generieren. Finnische Schulen verhießen Erlösung. Denn der Zeitgeist wollte hierzulande
wenig wissen von Disziplin und Anstrengungsbereitschaft all Grundvoraussetzung für
Wissenszuwachs. Und er will es bis heute nicht. Schule soll in erster Linie Spaß machen.
Außerdem müsste es nach weitverbreitetem Wunschdenken doch wohl möglich sein,
schulische Spitzenleistungen durch die Kombination von Spaß, den Einsatz moderner Lern-
und Lehr-Methoden und - vor allem - dem Wirken omnipotenter sowie permanent didaktisch
fortgebildeter Lehrerinnen und Lehrer zu erzielen. Deshalb verliebte man sich nur allzu
gern in die finnische Schulwelt. Erst
15 Jahre später werden Finnlands überragende Pisa-Ergebnisse durch eine
Studie des Bildungsforschers GABRIEL HELLER SAHLGREN (2015) von der London School of
Economics entzaubert. Sein Untersuchungsziel war es herauszufinden, warum
Finnland im Pisa-Schul-TÜV seit Jahren abfällt und dabei im Vergleich der
Pisa-Ergebnisse der Jahre 2003 und 2012 den Lernerfolg eines ganzen Schuljahres
einbüßte. Kein anderes nordeuropäisches Land hat zwischen 2003 und 2012 so viele
Pisa-Punkte eingebüßt wie Finnland. Im Jahr 2012 schafften die finnische Schülerinnen
und Schüler in Mathematik nicht einmal mehr unter die ersten zehn Rankingplätze.
SAHLGREN stieß bei seinn Untersuchungen zu den Ursachen dieses Absturzes auf einen
Zusammenhang, der eigentlich schon damals, bei der Veröffentlichung der ersten
Pisa-Studie, hätte thematisiert werden müssen: An der ersten Pisa-Studie nahmen nämlich
15-jährige Schülerinnen und Schüler teil, die den größten Teil ihres
Schullebens nach dem alten (klassischen) Unterrichtskonzept und nur den letzten,
sehr kleinen Tell in moderner Form unterrichtet wurden. Finnische Schulen waren zu dieser
Zeit vergleichsweise hierarchisch strukturierte Organisationseinheiten
mit einer Kultur der Autorität und des Gehorsams,
welche die finnischen Gesellschaft viel stärker prägte all die anderen nordeuropäischen
Länder. Der Unterricht war konservativ ausgerichtet, mit autoritären Lehrern und
Frontalunterricht sowie einem hierarchischen Erziehungsmodell, welches den
Schülerinnen und Schülern wenig Einfluss und Mitsprache gewahrte. Gruppenarbeit
kam nur selten vor. Die
neuen pädagogischen Ansatze (Abschaffung des Frontalunterrichts,
fächer- sowie jahrgangsübergreifende Lernsequenzen in Projektform, Gruppenarbeit und der
forcierte Ausbau des individuellen Lernens in autonomen Schulen), konnten ihre volle
Wirkung erst nach Durchführung der Pisa-Studie entfalten. Dieser Kontext
blieb bei der Auswertung der Pisa-Ergebnisse des Jahres 2000 leider unberücksichtigt und
führte dementsprechend zu falschen Schlussfolgerungen. Ignoriert wurden
zudem die empirischen Erkenntnisse von Bildungsexperten, nach denen sich Schulreformen
frühestens nach 10 Jahren, eher aber erst nach 15 Jahren bilanzieren lassen. Mit anderen
Worten: Das sehr gute finnische Pisa-Abschneiden kann eben nicht mit Verweis auf
die neuen, vermeintlich effektiven sowie effizienten Unterrichtsmethoden begründet
worden, sondern viel zutreffender mit jener konservativen Art der Unterrichtsgestaltung,
die mittlerweile verpönt ist. Obwohl
Finnland sein Bildungssystem gleichsam in einem ständigen Verbesserungs-Prozess
modernisiert, rutscht es im Pisa-Ranking fortwahrend ab. Das allein ist
für viele Anhänger des finnischen Bildungswesens schon schwer verdaulich. Geradezu
erschreckend dürfte für sie aber ein Resultat einer UNICEF-Studie (2007) sein, nach der
trotz der Abkehr von Autorität und Strenge sowie der Hinwendung zu Individualität und
Teamarbeit im Jahr 2007 (also mitten im Finnland-Pisa-Hype) in keinem anderen Land Kinder
weniger gern zur Schule gingen als in Finnland! Finnlands
Bildungsmodernisierungen haben also offensichtlich ihre wesentlichen Ziele
verfehlt: Statt zur Steigerung des Lernerfolgs tragen sie zu ihrer
Verschlechterung bei. Und auch die Einstellung der Lernenden zur Schule
hat sich trotz der pädagogischen Anpassungsmaßnahmen nicht verbessert, sondern
sogar verschlechtert. (Wirtschaft
und Erziehung, 2016, Ausgabe 2, S. 67 ff, Verbandsblatt des VLW / Bundesverband der Lehrer
an Wirtschaftsschulen) Es fragt sich nun natürlich: Wusste man das nicht oder wollte man es nicht wissen? Und: Wird man aus dieser Erkenntnis Folgerungen ziehen? So, wie pädagogische Diskussion und staatliche gelenkte Schulentwicklung in den letzten Jahren liefen, ist zu vermuten, dass man diese Erkenntnisse schlichtweg ignorieren und das Credo von der Überlegenheit der ach so tollen modernen Lernformen inklusive dem neuen kompetenzorientiertem Unterricht trotz besserem Wissen hoch halten wird. Was nicht sein darf, darf nicht sein. Die Kölner Silvesternacht lässt grüßen.
PS: Was kann man aber doch von Finnland lernen? Der Lehrplan definiert dort nur allgemeine Ziele und Kerninhalte, Lehrer können ihn autonom und frei ausgestalten. Sie haben Methodenfreiheit, auch bei der Evaluation. Die IT-Ausstattung ist gut. Neuerdings gibt es sogar Roboter für den Finnischunterricht (das wäre bei uns der Deutschunterricht!!!). Mehr dazu...
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